Wer zuerst kommt, fischt zuerst – Süddeutsche Zeitung

Krill ist Walfutter, eigentlich. Aber auch der Mensch fängt ihn für Omega-3-Kapseln und für die Lachszucht. Nachdem ein Meeresschutzabkommen geplatzt ist, beginnt vor der Antarktis eine neue Wild-West-Zeit.

Von Nathalie Bertrams, Ingrid Gercama und Tristen Taylor

24. Januar 2025 | Lesezeit: 11 Min.
Online hier zu lesen: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/wissen/krillfang-antarktis-wale-ccamlr-e155308/

Weiße Schaumkronen tanzen auf den Wellen der Magellanstraße, dem legendären Seeweg an der Südspitze Südamerikas. Der Wind peitscht über das aufgewühlte Wasser. In der chilenischen Hafenstadt Punta Arenas liegt die Antarctic Endeavour vor Anker, ein 80 Meter langer Fischtrawler.

Bald legt sie ab für ihre 1300 Kilometer lange Reise durch die berüchtigte Drakestraße, eine der gefährlichsten Seerouten der Welt, in die eisigen Gewässer des Südpolarmeers um die Antarktis. 

Dorthin zieht sie eine Kostbarkeit, kürzer als ein kleiner Finger: Krill. Und der Wettlauf mit anderen Fischerbooten.

Denn beim antarktischen Krillfang gilt: Wer zuerst kommt, fischt zuerst. Ein Abkommen erlaubt Fischereiflotten, 620 000 Tonnen Krill zu entnehmen in vier Abschnitten rund um die Südlichen Orkney- und Shetlandinseln, Südgeorgien sowie entlang der Antarktischen Halbinsel.

Damit einzelne Regionen nicht übermäßig ausgebeutet werden, gibt es in vier Sektoren gesonderte Quoten. Um die Antarktische Halbinsel, im Fanggebiet 48.1, durften höchstens 155 000 Tonnen Krill entnommen werden. Und die wurden ausgeschöpft.

Die ersten drei Zonen sind die attraktivsten Krillfang-Sektoren, es wurde fast nur hier gefischt.

In den anderen lohnt sich die Krillfischerei wohl nicht, wie die Wissenschaftler vermuten, weil die Schwärme dort nicht so dicht sind. Durch die Auslassung des Gebiets 48.4 wurden jährlich etwa 93 000 Tonnen Krill verschont.

Doch die Quoten für die einzelnen Fanggebiete sind nun Geschichte. China und Russland haben die Verlängerung dieser Regel Ende Oktober 2024 verhindert. 

Im Prinzip können nun die ganzen 620 000 Tonnen nur aus der Region um die Antarktische Halbinsel geholt werden – ein Lebensraum, der für Wale, Pinguine und Robben entscheidend ist.

Ihre krillreichen Fressplätze können die Supertrawler nun stärker befischen.

Genau dort waren in den vergangenen 14 Tagen acht Krillfangboote aus China und Norwegen unterwegs.

Flotten aus Norwegen, China, Südkorea, Chile und der Ukraine ziehen in diesen Monaten mindestens eine halbe Million Tonnen der garnelenartigen Krebstiere aus den polaren Gewässern. Krill ist lebenswichtig für viele Meeressäuger und Vögel. Auch der Mensch hat die Krebstiere für sich entdeckt: als Rohstoff für Omega-3-Nahrungsergänzungsmittel, in Haustierfutter und als Zutat für die Lachszucht.

Seit 1982 soll eine Höchstfangmenge diese Begehrlichkeiten im Zaum halten. Damals haben 27 Staaten, darunter Deutschland, das „Übereinkommen zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis“ (CCAMLR) unterzeichnet – das Abkommen, das nun geplatzt ist. Damit läuft eine der wichtigsten Maßnahmen zum Schutz des Antarktischen Krills aus.

„Das war ein Schock für alle“, sagt Bettina Meyer vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven (AWI). Die Meeresbiologin ist seit Jahren Mitglied im wissenschaftlichen Rat des CCAMLR. „Ich will nicht sagen, dass hier gleich die Welt zusammenbricht. Aber wir sehen Signale, bei denen wir sehr aufpassen müssen.“ Sie sorgt sich, dass die Fähigkeit schwindet, einen politischen Konsens für den Meeresschutz zu erlangen.

Foto: Nathalie Bertrams

Im südlichsten Hafen Chiles drängen sich bunte Holzhäuser, als wollten sie einander vor der Kälte schützen. Punta Arenas ist das Tor zur Antarktis, der Ausgangspunkt für luxuriöse Kreuzfahrten und wissenschaftliche Expeditionen in eine der entlegensten und unwirtlichsten Regionen der Erde. Wo Touristen bis zu 20 000 Euro zahlen, um Eisberge und Wale aus der Nähe zu sehen, legen auch Forschungsschiffe wie die deutsche Polarstern ab, um den sechsten Kontinent zu erkunden.

Foto: Ingrid Gercama

Ein weißes Kolonialgebäude im Stadtzentrum beherbergt das Chilenische Antarktis-Institut (INACH). Ein himmelblaues Schneemobil aus den 1970er-Jahren erinnert im Sitzungssaal an eine Zeit, als die Antarktis noch als unberührte Wildnis galt. Zwischen Fotos vergangener Expeditionen und lebensgroßen Pappaufstellern von Pinguinen berichten Wissenschaftler bei einem Symposium interessierten Laien von ihrer Krillforschung. Es sind nicht viele da.

Antarktischer Krill spielt eine zentrale Rolle im Südpolarmeer. Milliarden dieser zwei bis sechs Zentimeter großen Leuchtgarnelen bilden gewaltige Schwärme, die sich über Hunderte Quadratkilometer erstrecken. Die Superorganismen sind sogar aus dem Weltraum sichtbar.

In einem Kubikmeter Wasser leben bis zu 30 000 der wirbellosen Tiere und färben den Ozean rot.

Der Meeresbiologe César Cárdenas vom INACH ist einer der Experten auf dem Symposium. Ihn beschäftigt der Einfluss des Klimawandels auf den Krill.

Foto: Nathalie Bertrams

In den vergangenen 50 Jahren hat sich die Antarktische Halbinsel zu einem der sich am schnellsten erwärmenden Gebiete der Erde entwickelt. Gletscher schmelzen, Eisschelfe schrumpfen oder brechen auseinander. Der Zeitraum im Winter, in dem das Meereis anwächst, ist in 50 Jahren um etwa 80 Tage zurückgegangen. Das wärmere Meer und das abnehmende Meereis machen dem Krill das Leben schwer. Denn er ernährt sich hauptsächlich, indem er Algen von der Unterseite des Eises abnagt. Weniger Eis bedeutet weniger Nahrung für den Krill.

Foto: CCAMLR

Krill spielt eine Schlüsselrolle im globalen Klimasystem. Die Krebstiere filtern Plankton aus dem Wasser und transportieren über ihre Exkremente und absinkenden Exoskelette jährlich bis zu 23 Millionen Tonnen Kohlenstoff in die Tiefsee, wo dieser für Jahrhunderte gebunden bleibt. Das entspricht etwa dem Äquivalent des jährlichen CO₂-Ausstoßes von Belgien. Ohne diese natürliche Regulierung könnte die CO₂-Konzentration in der Atmosphäre noch stärker steigen.

Dazu kommt, dass die hohen CO₂-Werte in der Erdatmosphäre dem Krill jetzt schon zu schaffen machen. Das Meer nimmt Kohlenstoffdioxid aus der Luft auf und wird saurer, was die Schlüpfrate der Krilllarven drastisch verringert. Wissenschaftler warnen, dass die Krillpopulation bis 2050 in manchen Regionen um bis zu 50 Prozent schrumpfen könnte. Und jetzt werden Menschen wohl noch stärker eingreifen. Sowohl China als auch Russland planen, neue Krilltrawler zu bauen.

Die Obergrenze von 620 000 Tonnen Krill im gesamten Fanggebiet 48 wurde 1991 festgelegt. Das antarktische Ökosystem war damals weniger erforscht als heute. „Es handelt sich also um eine Art magische Zahl, die wissenschaftlich relativ wenig fundiert ist“, sagt Phil Trathan, ein emeritierter Meeresbiologe des British Antarctic Survey, der an mehr als 20 Antarktis-Exkursionen teilgenommen hat. „Aber ich denke, dass so ziemlich jeder der Meinung ist, dass das eine recht vorsichtige Zahl ist.“

Allerdings hatte sich der Bestand der Wale damals noch kaum erholt. Der industrielle Walfang im 20. Jahrhundert hatte die Walpopulationen in der Antarktis beinahe ausgerottet. Etwa drei Millionen Wale wurden getötet und die Bestände um bis zu 98 Prozent gesenkt. Erst das Moratorium der Internationalen Walfangkommission 1982 verbot den kommerziellen Walfang weltweit, obwohl es Ausnahmen für Japan, Island und Norwegen gibt.

Wie viel Krillfischerei die Antarktis verkraftet, kann niemand mit Sicherheit sagen. „80 Prozent der Krillfangquote werden derzeit ausgeschöpft. Ich gebe der Sache maximal fünf Jahre, bis die Fischerei eine Erhöhung der Fangquoten fordern wird“, sagt Bettina Meyer vom AWI. Es sei wichtig, dann mit den richtigen wissenschaftlichen Argumenten und Daten darauf reagieren zu können. „Unter den jetzigen Umständen würde ich einer Erhöhung jedoch niemals zustimmen, weil wir erst die neue Situation genau analysieren müssen.“

Die Gesamtmenge aus dem geschützten Gebiet 48 wurde in den vergangenen 30 Jahren hauptsächlich aus drei Teilgebieten geholt, obwohl Fischerei in drei weiteren erlaubt wäre. Im Sektor 48.4 lohnt sich das Krillfischen wohl nicht, weil die Schwärme dort nicht so dicht sind, vermuten die Wissenschaftler. Weil die Fischerei dieses Gebiet ausgelassen und sich auf die lohnenswerteren Sektoren konzentriert hat, wurden bisher jährlich etwa 93 000 Tonnen Krill verschont.

Die Krillfischerei, einst ein Randgeschäft, hat sich seit den 1990er-Jahren wieder vervierfacht. Vorher, in den 1970er-Jahren, begann die Sowjetunion mit dem kommerziellen Krillfang in der Antarktis und fischte bis zu 445 000 Tonnen – etwa so viel wie heute alle Staaten zusammen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zerfiel auch die antarktische Krillfischerei. In den 2000er-Jahren trat ein neuer Akteur auf den Plan: das norwegische Biotech-Unternehmen Aker Qrill Company. Es gehört zur milliardenschweren Aker-Gruppe, einem börsennotierten Konzern mit engen Verbindungen zur Öl- und Gasindustrie im Besitz des norwegischen Milliardärs Kjell Inge Røkke.

Inzwischen fischt Aker jährlich rund 300 000 Tonnen Krill in der Antarktis, das sind fast drei Viertel des Gesamtfangs. Der Krill wird zu Omega-3-Produkten und Futtermitteln für Zuchtfische verarbeitet – und landet so indirekt auf unseren Tellern.

Foto: Tristen Taylor

„2024 wurde mit 498 000 Tonnen die höchste jemals gefangene Menge an Krill erreicht. Und ich befürchte, dass in der aktuellen Saison die Höchstquote ausgeschöpft wird“, sagt Cárdenas, der momentan auch dem Wissenschaftsrat der CCAMLR vorsteht. Durch die gefallenen Beschränkungen könnten insbesondere die Gewässer rund um die Antarktische Halbinsel ins Visier der Supertrawler rücken – ein Lebensraum, der für Wale, Pinguine und Robben entscheidend ist.

Foto: Nathalie Bertrams

Sie konkurrieren mit „industriellen Superräubern“, wie Matthew Savoca von der Universität Stanford sie nennt. Immer größere und effizientere Schiffe steuern mithilfe akustischer Ortungssysteme die dichtesten Schwärme an und saugen sie ganz aus dem Ozean, während Wale nur ihren Bedarf decken. „Wir sind menschliche Raubtiere in einem System, in dem ohnehin schon weniger Krill vorhanden ist als früher“, sagt er.

Foto: Dreamstime Chasedekk/IMAGO/Dreamstime

Wale fressen während ihrer nur 100 Tage langen Nahrungssaison täglich bis zu 30 Prozent ihres Körpergewichts in kleinen Krebsen. Ein ausgewachsener Buckelwal verschlingt bis zu drei Tonnen Krill pro Tag. „Wenn Wale während der Monate in der Antarktis nicht genug zu fressen bekommen, können sie nicht das Fett ansetzen, das sie für ihre langen Wanderungen und die Fortpflanzung brauchen“, sagt Savoca. Fehlt es an Nahrung, sinken die Fortpflanzungsraten und auch die Überlebenschancen der Kälber dramatisch. „Es ist nicht so, dass sie dann alle verhungern“, sagt Savoca. „Das Hauptproblem ist, dass ihre Populationen nicht wachsen oder nicht stabil bleiben können, wenn sie nicht genug zu essen haben.“

Blauwale sind nach wie vor extrem gefährdet, während sich Buckelwale und Finnwale langsam erholen. Doch das kann nicht weitergehen, wenn es zu wenig Krill gibt. Und der Krillhunger der Wale sei in den Managementplänen von CCAMLR nicht ausreichend berücksichtigt, sagt der Meeresbiologe Logan Pallin von der University of California. „Wir wissen, dass Buckelwale und Finnwale allein für etwa 70 bis 75 Prozent des Krills verantwortlich sind, der in manchen Jahren auf der Antarktischen Halbinsel verzehrt wird.“ Pallin vermutet, dass die Erholung der Buckelwal-Population schon an der Grenze dessen angelangt ist, was das Ökosystem hergibt.

Bevor der kommerzielle Walfang sie dezimiert hatte, verzehrten Wale geschätzte 430 Millionen Tonnen Krill im Jahr – ein Tausendfaches der heutigen Fangmenge der Fischerei. Savoca sagt: „Die heutige Krillmenge könnte unmöglich so große Walpopulationen erhalten.“ Paradoxerweise ließ das menschengemachte Schwinden der Wale den Krillbestand nicht explodieren, sondern schrumpfen. Forscher vermuten, dass Dünger aus Walexkrementen fehlte, der mit Nährstoffen wie Eisen das Wachstum von Phytoplankton und damit Krill ankurbelt.

Nicht nur Wale sind auf Krill angewiesen. Die bis zu 300 Kilogramm schwere Krabbenfresserrobbe ist die häufigste Robbenart der Welt. Über 90 Prozent ihrer Ernährung bestreitet sie mit Krill, den sie mit einem spezialisierten Gebiss aus dem Wasser filtert. Und eine Studie aus dem Fachjournal Nature liefert Belege, dass weniger Krill auch für den „dramatischen Rückgang“ der Zügelpinguinpopulationen auf der gesamten Antarktischen Halbinsel verantwortlich sein könnte.

Nachdem feinmaschige Netze den Krill aus dem Meer gezogen haben, wird er auf spezialisierten Trawlern direkt an Bord eingefroren oder zu Krillmehl verarbeitet. Aus diesem lässt sich später Öl extrahieren. Damit macht Aker Qrill sein Geschäft. Der fünfstöckige Firmensitz in Oslo glitzert in der Sonne wie ein futuristischer, gläserner Eisberg. Im Besprechungsraum sitzt der Nachhaltigkeitsmanager Pål Skogrand hinter einem Tisch mit roten Krillöl-Kapseln. Aker Qrill bewirbt sie als „umweltfreundliche Premiumprodukte aus den unberührten Gewässern der Antarktis“. Ihre Trawler saugen den Krill mit einer speziellen Pumpe aus den Netzen ins Boot, „Eco-Harvesting“ nennt die Firma das. Die Krillöl-Kapseln seien gut für die Haut, das Immunsystem und das Herz, preist die Firma an. Außerdem wird ihnen eine heilende Wirkung bei einer Vielzahl von Leiden – vom prämenstruellen Syndrom bis Krebs – zugeschrieben. Kritiker warnen jedoch, dass die gesundheitlichen Vorteile oft übertrieben und nicht ausreichend belegt sind.

Foto: Tristen Taylor

„Wir würden nicht ans andere Ende der Welt fahren, wenn Krill nicht eine außergewöhnliche Zusammensetzung hätte, die ihn für viele Anwendungen interessant macht“, sagt Skogrand. Auch im Nordpolarmeer gibt es Krill, allerdings ist der Antarktische Krill zehnmal fettreicher und damit attraktiver. Krillöl hat sich in den vergangenen Jahren als Nahrungsergänzungsmittel etabliert, insbesondere durch steigendes Gesundheitsbewusstsein in Europa, China und den USA. Das globale Geschäft mit Krillöl wird bis 2036 auf über 3,6 Milliarden US-Dollar geschätzt.

Wie geht der größte Krillräuber mit der Verantwortung fürs antarktische Ökosystem um? Nach Kritik von Greenpeace hat Aker Qrill freiwillig Pufferzonen um Pinguinkolonien eingerichtet, Streifen von 30 Kilometern, in denen die Trawler den Tieren keine Konkurrenz machen. Und die Firma experimentiert mit neuen Technologien, um Beifang zu reduzieren. Doch in den riesigen Netzen der Supertrawler verenden immer wieder Wale. Laut Skogrand sind solche Vorfälle äußerst selten. 2024 wurden wieder drei tote Buckelwale dokumentiert.

Skogrand argumentiert, dass Krill eine unverzichtbare Ressource sei, um die Ernährungssicherheit der wachsenden Weltbevölkerung zu sichern. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen prognostiziert, dass die Produktion in Aquakulturen weltweit bis 2030 auf 106 Millionen Tonnen steigen wird. Studien von Aker Qrill stellen fest, dass Krill im Fischfutter das Wachstum und die Stresstoleranz der Zuchttiere fördern kann. „Es ist eine ungenutzte Ressource“, so Skogrand. „Und in einer Zeit, in der die Nachfrage nach Meeresproteinen wächst, kann Krill eine Lösung bieten.“ Skogrand geht davon aus, dass die Krillbestände nicht gefährdet sind: „Wenn man sich das Verhältnis der Entnahmen zur Biomasse ansieht, gibt es keine nachhaltigere Fischerei“, sagt er. Im Fanggebiet 48 darf ein Prozent des dortigen Krillbestands gefischt werden. „Wichtig ist, dass alles wissenschaftlich fundiert und vorsichtig abläuft.“

Fischerei-Kritiker wie der Wissenschaftler Matthew Savoca sind jedoch skeptisch: „Krill-Produkte lösen weder den Welthunger noch Unterernährung oder den Nährstoffmangel bei Menschen. Ernährt man sich gesund, braucht man kein zusätzliches Omega 3“, sagt er. „Wenn wir das Ökosystem in der Antarktis erhalten wollen – sei es für Pinguine, Wale oder das Weltklima –, sollten wir dort nicht fischen.“

Zur Wahrheit gehört: Krill im Fischfutter erfüllt vor allem Schönheitsideale. Das zeigt sich einige Autostunden von Bergen entfernt.

Die Straße schlängelt sich entlang des Hardangerfjord, bekannt für seine tiefblauen Buchten und kreisrunden Lachsfarmen.

In dieser Region wachsen die Lachse, die später in deutschen Supermärkten landen. Norwegen ist der größte Exporteur von Zuchtlachs, mit jährlich etwa 1,2 Millionen Tonnen. Bis 2050 sollen es fünf Millionen Tonnen werden.

Lachszucht soll den Druck auf die überfischten Wildlachs-Populationen verringern. Aber sie hat selbst ökologische Folgen. Krankheiten und resistente Seeläuse breiten sich aus und jedes Jahr entkommen etwa 200 000 Zuchtlachse aus Netzkäfigen. Sie mischen sich unter die Wildlachse und gefährden deren genetische Vielfalt. In 71 Prozent der norwegischen Flüsse sind Wildlachse bereits genetisch kontaminiert. Dadurch hat sich der Wildlachsbestand in den vergangenen 20 Jahren auf eine halbe Million Tiere halbiert.

Lachse sind Raubfische und werden in der Zucht mit einer Mischung aus Fischmehl und Fischöl sowie pflanzlichen Proteinen wie Soja, Erbsen und Weizen, dazu Pflanzenöl und Krillmehl gefüttert. Krill enthält viel Astaxanthin – ein natürliches Antioxidans, das den Lachs charakteristisch rosa färbt.

Es geht also um die Ästhetik eines Luxusprodukts, sagt Matthew Savoca. „Es ist einfach die dümmste Sache der Welt: Gigantische Schiffe, die fossile Brennstoffe verbrennen, fahren von Norwegen, China und Südkorea bis ans Ende der Welt, um Nahrung abzuschöpfen, die Wale, Robben und Pinguine dringend benötigen – nur damit unser Lachs schön rosa wird.“

Foto: Nathalie Bertrams

Die Antarktis galt lange als eines der am besten geschützten Gebiete der Welt, dank des Antarktis-Vertrags und eben des CCAMLR-Übereinkommens zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze. Es sollte die marine Ökologie schützen und eine nachhaltige Nutzung der Ressourcen sicherstellen, insbesondere des Krills.

Doch geopolitische Spannungen machen das immer schwerer. Eigentlich sollten die Staaten im Oktober auf der Versammlung, die den Krillschutz einschränkte, ein neues System einführen: Höhere Fangquoten bei gleichzeitig kleineren Fangbereichen sollten die Fischerei genauer überwachen. Dafür hätte im Westen der Antarktischen Halbinsel ein Meeresschutzgebiet geschaffen werden müssen. Doch Russland legt seit 2017 jedes Jahr ein Veto gegen das neue Meeresschutzgebiet ein.

Statt Fortschritte zu erzielen, führten die Verhandlungen 2024 zu weniger Schutz des Ökosystems. „Wenn wir in der Antarktis, an einem Ort ohne einheimische Bevölkerung, keine Ergebnisse erzielen können: Was sagt das dann über die globale Bereitschaft aus, Umweltprobleme zu lösen?“, fragt Claire Christian, Direktorin der Naturschutzorganisation Antarctic and Southern Ocean Coalition.

Derweil positionieren sich die Riesentrawler der Krillindustrie vor der Antarktischen Halbinsel. Die chinesischen Schiffe und die Trawler von Aker Qrill – darunter die 130 Meter lange Antarctic Endurance – sind seit Mitte Dezember vor Ort. Weitere schwimmende Fischfabriken sind auf dem Weg oder transportieren ihre Beute in die Häfen. Das jährliche Wettrennen um den nun größeren Preis im Fanggebiet 48.1 hat längst begonnen.

Die Recherche zu diesem Artikel wurde vom Pulitzer Center on Crisis Reporting unterstützt.

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