Darf man Oktopusse noch essen? – Süddeutsche Zeitung

Sie spielen eine wichtige Rolle im Meeresökosystem, gelten als hochintelligent. Und sie sind eine wertvolle Delikatesse, von Japan bis Spanien. Bald soll man sie züchten können. Kann Aquakultur das Kraken-Dilemma lösen?

Von Nathalie Bertrams, Ingrid Gercama und Tristen Taylor

Im Hafen von Nouadhibou, Mauretaniens zweitgrößter Stadt, lehnt der 48-jährige Fischer Atigh Boucavar erschöpft an einem Stapel Oktopusfallen. 

Um ihn herrscht ein chaotisches Treiben. Hafenarbeiter beladen Boote mit Motoren, Dieselfässern und Tüten voller Baguettes als Proviant.

Foto: Nathalie Bertrams

Tausende blau-weiße Pirogen, traditionelle Kleinboote, wiegen sich im Wasser.

Fischer schleppen Säcke voller frisch getöteter Oktopusse zu den Händlern am Kai. Der Geruch von verrottenden Fischabfällen hängt schwer in der Luft.

Boucavar und seine sechsköpfige Crew verbringen oft bis zu zwanzig Tage auf See. Sie verdienen knapp fünf Euro pro Kilo gefangenem Oktopus, den sie unter sich aufteilen. Doch immer häufiger kehren sie mit leeren Händen zurück. Der Wettbewerb ist hart. 

Foto: Nathalie Bertrams

Mauretanien beherbergt die größte handwerkliche Krakenfischerei der Welt. Etwa 50 000 Fischer fangen mit einer Flotte von 7500 Pirogen vor allem Octopus vulgaris, den Gewöhnlichen Kraken.

„Ich habe keine andere Wahl“, sagt Boucavar, während er eine Oktopusfalle repariert. „Ich muss aufs Meer, um zu überleben.“

Video: Nathalie Bertrams

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Er blickt auf den Horizont, wo sich die Riesentrawler und Fischkutter ausländischer Fischereikonzerne im Dunst abzeichnen.

Boucavar glaubt, dass sie das Meer ausplündern. „Wir, die Fischer, sind hier die Verlierer“, sagt er. „Ich verdiene nur so viel, dass ich gerade davon leben kann.“

Die Meerestiere gelangen in eisgekühlten Kisten zu einem der mehr als fünfzig Verarbeitungsbetriebe der Stadt.

Nouadhibou, eine Stadt mit 140 000 Einwohnern, ist das schlagende Herz der mauretanischen Wirtschaft, obwohl ihr staubiges Erscheinungsbild das nicht vermuten lässt. Etwa 30 000 Tonnen Oktopusfleisch exportiert der Wüstenstaat jedes Jahr, hauptsächlich nach Spanien und Japan.

Octopus vulgaris lebt in bis zu 250 Metern Tiefe vor Mauretaniens Küste. Mit seinem blauen Blut, drei Herzen und acht Armen, in denen zwei Drittel ihrer 500 Millionen Nervenzellen sitzen, ist er eines der faszinierendsten Lebewesen im Tierreich. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der London School of Economics kamen 2021 in einer Metaanalyse von 300 Studien zu dem Schluss, dass die Kopffüßer empfindungsfähig sind und daher unter das Tierschutzrecht für Wirbeltiere fallen sollten. In den ausgewerteten Studien fanden sie „starke wissenschaftliche Beweise“ dafür, dass die Tiere Vergnügen, Aufregung und Freude erleben können – aber auch Schmerz und Trauer.

Oktopusse gelten als hochintelligent und als Delikatesse. Ob gegrillt, in einer hawaiischen Poké Bowl, als Tapas oder Sushi: Oktopus wird weltweit nachgefragt. Nicht nur in Asien und im Mittelmeerraum, sondern zunehmend auch in den Vereinigten Staaten. Die Fangmenge hat sich zwischen 1950 und 2018 mehr als verzehnfacht, rund 380 000 Tonnen werden aus dem Meer geholt. Der Großteil des Oktopus, den wir in Europa essen, kommt aus Westafrika. Spanien, insbesondere die nordwestliche Fischereiregion Galicien, dominiert den Handel in der EU.

Spanien

In der galicischen Kleinstadt O Carballiño hat die Zubereitung von Oktopus Tradition. Die Mönche des nahe gelegenen Zisterzienserklosters Santa María de Oseira, die von ihren Pächtern in getrocknetem Kraken bezahlt wurden, erfanden im 16. Jahrhundert das klassische Tapas-Gericht Pulpo á feira.

Foto: Nathalie Bertrams

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Der Kopffüßer wird im Kupferkessel gekocht, bis sich Fleisch und Wasser blutrot färben.

Serviert wird er zerkleinert auf Holztellern.

In O Carballiño gibt es allein mehr als ein Dutzend Pulperías, die das Gericht auf traditionelle Weise zubereiten. Eine davon gehört Daniel González Atanes. Der 49-jährige Gastwirt und Unternehmer spricht schnell und lächelt viel. Er führt die Oktopusverarbeitung A Pulpeira in vierter Generation fort. Noch vor der Fabrikhalle am Stadtrand begrüßt Besucher ein intensiver Geruch: der Duft von gekochtem Oktopus, süßlich und durchdringend. Jährlich verarbeitet das Unternehmen rund 800 Tonnen der Meerestiere.

Atanes führt durch die Fabrik. Kisten mit 300 Tonnen gefrorenem Tintenfisch stapeln sich im Kühlhaus bis zur Decke.

Foto: Nathalie Bertrams

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Nichts für Zartbesaitete, wenn die aufgetauten graurosa Tiere nach einem Wasch- und Schleudergang wie Eingeweide aus einer stählernen Zentrifuge quellen.

Im Schlachthaus entfernen Arbeiterinnen die Innereien der Tiere, schneiden die Köpfe ab und zerlegen die acht Arme.

Vakuumverpackt kommen die Oktopusarme schließlich in einen gigantischen Schnellkochtopf. Dort köcheln die Tentakel in ihrem eigenen Saft, bis sie die charakteristische tiefrote Farbe annehmen, die Feinschmecker weltweit zum Schwärmen bringt.

Die Krakenarme gehen auch in Länder, die lange Zeit eher selten Pulpo auf der Speisekarte hatten, wie Großbritannien, Deutschland oder die USA. Wie auch rund ums Mittelmeer wird in Galicien selbst immer weniger Oktopus gefischt. Im Jahr 2021 importierten die EU-Länder darum mehr als 100 000 Tonnen Oktopus im Wert von 972 Millionen Euro. 80 Prozent davon stammen aus Mauretanien und der Westsahara. „Von dort kommt die ‚japanische Qualität‘, die wir hier ausschließlich verwenden“, sagt Atanes.

Mauretanien

2700 Kilometer Luftlinie weiter südlich in Mauretanien. An einer einsamen Tankstelle namens Gare du Nord, auf halber Strecke von Nouadhibou in die Hauptstadt Nouakchott, trinkt Babana Yayha Emhamed einen süßen Minztee. Die Wüste reicht zu beiden Seiten der asphaltierten Straße bis an den Horizont, nur wenige Zelte durchbrechen die Leere. Mauretanien liegt am Rande der Sahara und ist dreimal größer als Deutschland.

„Mauretanier sind mit dem Rücken zum Meer geboren“, sagt Emhamed, Generalinspektor des Ministeriums für Fischerei und Meereswirtschaft. „Sie sind Wandernomaden, mit Kamelen, Kühen, Ziegen und Schafen. Vom Meer wissen sie nichts.“

Doch die verheerenden Dürren von 1970 und 1984 trieben die Menschen massenhaft zur Küste. Erst dort entdeckten sie den immensen Reichtum des Meeres an Fischressourcen, sagt Emhamed. Die Küste erstreckt sich über 700 Kilometer von der Westsahara im Norden bis nach Senegal im Süden und zählt zu den fischreichsten Gewässern der Welt.

Die kalte kanarische Strömung und der Golf von Guinea treffen hier aufeinander. Der Auftrieb von kühlem, nährstoffreichem Meerwasser stimuliert eine hohe Planktonproduktion, die wiederum ein fruchtbares Küstenökosystem schafft. Doraden, Makrelen, Thunfische, Seebarsche, Sardinen, Haie und Langusten tummeln sich in diesen Gewässern. Und natürlich Kraken.

Die Fischerei ist nach dem Eisenerzabbau der zweitgrößte Wirtschaftszweig des Landes geworden.

 Mauretanien vergibt Fischereilizenzen an riesige Trawler aus China, Russland, der Ukraine, der Türkei und Europa. Sie fischen hauptsächlich kleine Sardinen, die zu Fischmehl für Tierfutter verarbeitet werden. Boote, die oft auf zerstörerische Weise mit Grundschleppnetzen fischten, beherrschten auch den Krakenfang.

Doch 2012 schritt die mauretanische Regierung ein. Seither ist der Fang von Oktopussen Mauretaniern vorbehalten. „Wegen seines Marktwerts, und weil er so leicht zu fangen ist, ist Octopus vulgaris eine sehr einträgliche Art“, sagt Emhamed. Im Jahr 2021 war die Oktopusfischerei in Mauretanien allein etwa 300 Millionen Euro wert, eine Menge Geld in dem armen Land. „Leider stellen wir seit mehreren Jahren, ja Jahrzehnten, fest, dass der Bestand rückläufig ist.“ Emhamed sorgt sich. Die Fischer, die Hafenarbeiter – man komme leicht auf 100 000 Leute, die vom Oktopus abhängen.

„Der Octopus vulgaris ist eine Schlüsselart – sowohl für das marine Ökosystem als auch für den Fischereisektor“, sagt Beyah Meissa, Meeresbiologe am Mauretanischen Institut für Ozeanografische Forschung und Fischerei (Imrop) in Nouadhibou. In seinem klimatisierten Büro auf einer Klippe über der Bucht erklärt er, dass die Kraken als geschickte Räuber eine entscheidende Rolle in der Nahrungskette spielen. Sie verhindern Überpopulationen und sorgen für ein gesundes Gleichgewicht im Meeresökosystem des Atlantiks. Ein Rückgang der Krakenpopulation verringert die Artenvielfalt.

Meissa hat jahrelang die Fischbestände in Mauretanien untersucht und sagt: Die Oktopusbestände sind überfischt. Und das seit Jahren. Die Bedrohungen sind vielfältig: Es gibt immer mehr Pirogen, Mauretanien hat an die industrielle Fischerei jetzt auch Lizenzen für die Küstenbereiche vergeben, und die Wellhornschnecke, eine Hauptnahrungsquelle der Kraken, wird für den chinesischen Markt inzwischen intensiv gejagt. Hinzu kommen steigende Wassertemperaturen wegen des Klimawandels.

Um den Schaden zu begrenzen, beschloss die mauretanische Regierung Schutzmaßnahmen: Es dürfen keine Kraken unter 500 Gramm gefischt werden, und die Fangmenge wurde auf konservative 30 000 Tonnen limitiert. Während der Laichsaison gibt es zwei Schonzeiten von je ein bis zwei Monaten. Spezielle Schutzzonen werden eingerichtet. „Erst vor einer Woche haben wir ein Fischereiverbot für zwei Gebiete erlassen, in denen es junge Tintenfische gibt“, sagt Meissa. Doch die Kleinfischer respektierten die Fangquoten nicht und übten Druck auf die Regierung aus, um die Fischerei ganzjährig offenzuhalten, so Meissa. „Sie fangen viel mehr, als sie sollten.“

Die Küstenwache überwacht die 200-Meilen-Zone und die ausländische Fangflotte mit modernster Satelliten- und Radartechnik, Überwachungsschiffen und Patrouillenbooten. Sie sichert zudem die Schutzzonen und den Nationalpark Banc d’Arguin, den größten Küstenpark Afrikas. Er ist ein Brutplatz für Oktopusse, und mehr als zwei Millionen nordische Zugvögel überwintern dort. Doch illegale Fangtätigkeiten nehmen auch dort zu. „Fischer werden es immer schaffen, das Gesetz zu umgehen, das ist die Natur der Fischerei überall auf der Welt“, sagt Meissa. „Es geht hier um sehr viel Geld.“

Moulaye Abbase Boughourbal ist mit Fischerei reich geworden. Er exportiert Tintenfisch nach Japan und Europa, Sardinen und Fischmehl verkauft er nach Russland. 

Foto: Nathalie Bertrams

Ein Produktionsstopp würde sein Unternehmen täglich Millionen Euro kosten, sagt er. Mehr finanzielle Details will er nicht preisgeben. Seine Tochter Jamila Boughourbal führt durch die Oktopusverarbeitung im Industriegebiet von Nouadhibou.

Bevor die Tiere eingefroren werden, durchlaufen sie strenge Kontrollen. Boughourbal betont, dass ihre japanischen Kunden ganz besonders auf Qualität und Ästhetik achten. Ein Tintenfisch mit sieben Armen oder beschädigten Tentakeln würde niemals gekauft.

Foto: Nathalie Bertrams

Ein Mann in der Produktionsstätte schnuppert an jedem einzelnen Oktopus, der angeliefert wird.

Denn wenn ein Krake auch nur einen Tropfen Benzin vom Bootsmotor abbekommen hat, lehnten die japanischen Importeure die gesamte Containerlieferung ab. Wie in Spanien heißt die beste Güteklasse in Mauretanien ‚japanische Qualität‘.

Japan

In Osaka, einer Hafenstadt im Süden Japans, geht das Leben erst nachts richtig los. Eine Menschenmenge drängt sich unter den Neonreklamen der Altstadt. 

Video: Nathalie Bertrams

Es duftet nach Takoyaki, einer Spezialität aus Japans Straßenküche.

An überfüllten Ständen stehen Menschen Schlange, um frittierte Oktopusbällchen mit Fischflocken und Soße zu essen. Auch in den voll besetzten Izakayas, von außen an der roten Laterne zu erkennen, präparieren Köche Oktopus – gegrillt, gekocht, als Sashimi oder Salat. Fast vierzig Prozent des Oktopus, der nach Japan importiert wird, kommt aus Mauretanien. Er gilt als der beste der Welt.

Die nächtliche Belebtheit Osakas steht in krassem Gegensatz zur Ordnung in Edogawa City, einem ruhigen Wohngebiet in Tokio. Hier wohnt der Mann, der hinter der mauretanisch-japanischen Verbindung steckt.

Foto: Nathalie Bertrams

Masaaki Nakamura sitzt umgeben von Erinnerungsfotos und Fachbüchern in seinem bescheidenen Apartment im siebten Stock. Mit 26 Jahren betrat er erstmals mauretanischen Boden. Heute, mit 73 Jahren, erinnert er sich an seine Anfänge und lacht über vergilbte Fotos. „Es gab dort damals nichts“, sagt er. „Nichts als Wüste.“

1976, nach dem ersten mauretanischen Dürrejahr, sollte er als Freiwilliger für die japanische Agentur für internationale Zusammenarbeit den Fischereisektor in Mauretanien aufbauen. Sechs Monate lang durchstreifte Nakamura die Küstenregion auf der Suche nach Fischern. Nakamura erkannte, dass Oktopusfang einfach wäre. Nur zehn Männer waren anfangs bereit, mit ihm zu arbeiten. Die Einheimischen fanden Oktopus eklig.

Nakamura lehrte die traditionelle japanische Methode des Tintenfischfangs mit kleinen Krügen. Diese werden alle zwei Meter an einem Seil vertäut und bis auf 30 Meter Tiefe ins Meer gelassen. Oktopusse lieben Verstecke und ziehen sich gerne in die Töpfe zurück, so können sie lebend aus dem Wasser gezogen werden. Die Mauretanier verwenden noch heute solche Plastiktöpfe.

Nakamura sieht heute die Schattenseiten der rasanten Entwicklung der Fischerei in Mauretanien. Für die Überfischung macht er China verantwortlich. „China liegt mit einer riesigen Flotte von Hunderten von Trawlern vor Westafrika“, sagt er. „Sie stehlen alle Ressourcen.“ Die Fischerei komplett in die Hand von Mauretaniern zu legen, sei die einzige Chance für das Land. Er fordert, dass die Gewerkschaften die Fabriken besitzen und die Anzahl der Trawler reduziert wird. Darum plant er eine letzte Reise nach Mauretanien, um die Gewerkschaften zu beraten. „Wir müssen jetzt handeln“, sagt er.

Ist Zucht die Lösung?

Der Druck auf die Oktopusfischerei wächst. Schon seit den 1960er Jahren versuchen Forschungsinstitute und Firmen, die Tintenfischzucht zu industrialisieren. Mehr als die Hälfte der Meerestiere, die wir essen – wie Muscheln, Garnelen, Lachs –, stammt inzwischen aus Zucht. Auf den ersten Blick scheint auch der Krake ideal für die Aquakultur zu sein: Er wächst schnell, lebt bloß ein bis zwei Jahre und vermehrt sich reichlich. Doch ihr komplexer Lebenszyklus lässt sich in Gefangenschaft nur schwer nachbilden.

In der Wildnis sind Oktopusse extreme Einzelgänger, die sich nur einmal am Ende ihres Lebens paaren. Das Weibchen legt mehrere Hunderttausend Eier und verteidigt diese monatelang gegen Fressfeinde. Wenn der Nachwuchs schlüpft, stirbt das Weibchen. Aus den Eiern kommen winzige Paralarven, die in den ersten ein bis zwei Monaten wie Plankton im Wasser schweben. Die zunächst millimetergroßen Larven jagen große Mengen an Lebendfutter, bis ihre Arme und Saugnäpfe sich entwickelt haben und sie sich auf dem Boden niederlassen. Im Meer erreichen nur wenige Jungtiere das Erwachsenenalter. Und im Labor lange kein einziges.

2019 verkündete das spanische Unternehmen Nueva Pescanova, einer der größten Fischereikonzerne der Welt, einen Durchbruch in der Zucht. Das Unternehmen stützt sich auf Forschungsarbeiten des Spanischen Ozeanografischen Instituts, das sich mit den Fortpflanzungsgewohnheiten des Gewöhnlichen Kraken befasst. Im Labor überlebten junge Oktopusse als Paralarven mehrere Monate. Von 2023 an wollten die Forscher vor Gran Canaria jährlich 3000 Tonnen Oktopusfleisch züchten. Doch diese Pläne lösten eine hitzige Debatte aus.

Befürworter der Aquakultur behaupten, Massenhaltung könne die steigende Nachfrage nach Oktopus nachhaltig decken. Keri Tietge, Oktopusexpertin bei der Tierschutzorganisation Eurogroup for Animals, widerspricht. „Es wird behauptet, die Aquakultur entlaste die Wildtierpopulationen. Das ist aber kaum der Fall, sondern fördert bloß die wachsende Nachfrage.“ Eine 2019 veröffentlichte Studie hat diesen Mechanismus bei anderen Fischarten beobachtet.

Zudem belaste die industrielle Aufzucht die marinen Ökosysteme zusätzlich. Denn um ein Kilo Oktopusfleisch zu produzieren, braucht es mehr als das Doppelte oder Dreifache an Fischfutter. Derzeit wird etwa ein Drittel des weltweit gefangenen Fischs zu Futtermitteln für andere Tiere verarbeitet.

Die hohe Intelligenz und das Einzelgängertum der Oktopusse machen ihre Haltung in Gefangenschaft außerdem ethisch bedenklich. Sie besitzen sowohl Kurz- als auch Langzeitgedächtnis, erkunden neugierig ihre Umgebung und können sogar Individuen anderer Arten erkennen und „mögen“. Es wird inzwischen sogar angenommen, dass sie träumen.

Die Massentierhaltung würde für die Tiere zur Qual, so Tietge. Um das Züchten profitabel zu machen, sei eine hohe Besatzdichte nötig. Normalerweise leben Oktopusse allein in ihren Revieren, die bis zu 200 Quadratmeter groß sind. „Oktopusse sind es nicht gewohnt, zusammenzuleben. In sterilen Becken sind sie gestresst und gelangweilt. Oft werden sie dann aggressiv und bekämpfen sich.“

Studien zeigen, dass Oktopusse Schmerzen empfinden und sogar aktiv vermeiden. Darüber hinaus verfügen sie über fortgeschrittene Lern- und kognitive Fähigkeiten und reagieren auf Narkose ähnlich wie Säugetiere, schreibt das nationale Gesundheitsinstitut der USA auf seiner Website. Darum könnte in den USA für Tierversuche an Kopffüßern in Zukunft die Genehmigung einer Ethikkommission erforderlich werden. Bisher galt das einzig für Wirbeltiere wie Mäuse oder Affen.

Auch die EU-Kommission will bis Ende 2023 ihre Tierschutzvorschriften überarbeiten, um sie an die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse anzupassen. Seit 2010 behandelt die EU Oktopusse als fühlende Wesen.

Trotz Widerstands von Tierschützern und finanzieller Probleme hält Nueva Pescanova an seinen Plänen fest. Das Unternehmen stimmte einem Besuch seiner Forschungseinrichtung nicht zu und gewährte kein Interview. Die bisher bekannt gewordenen Forschungsergebnisse sind ernüchternd: Die in Gefangenschaft gezüchteten Tiere sind offenbar weniger überlebensfähig als erhofft, viele sterben kurz nach der Geburt. Die Massentierhaltung im Hafen von Las Palmas liegt daher vorerst auf Eis.

Daniel Atanes von A Pulpeira möchte eigentlich nichts zur Massenzucht von Oktopussen sagen. Nur so viel, die Firma habe bekanntlich „bislang kein einziges Kilo produziert“. Außerdem gehe es um Qualität – Geschmack und Geruch, Farbe und Textur. „Für mich ist der Oktopus aus Mauretanien einfach der beste der Welt“, sagt Atanes in der Oktopuszerlegung. 

Foto: Nathalie Bertrams

Dann holt er einen Krakenarm aus der Mikrowelle und zerschnipselt ihn mit einer Schere auf ein Brettchen. Etwas Olivenöl, Salz und eine Prise Paprika, fertig ist die Verkostung. Der Leckerbissen aus Mauretanien liegt noch tagelang schwer im Magen.

Die Recherche zu diesem Artikel wurde von Fonds Bijzondere Journalistieke Projecten und Pulitzer Center on Crisis Reporting unterstützt. Mitarbeit: Abu Bakr Salem

Online here: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/wissen/oktopus-ueberfischung-zucht-oekosystem-e665145/

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